Licht leuchtet (14)
Gelassen bleiben
14.12.2021 hjb Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Von Theda Frerichs
Der Wunsch nach Gelassenheit ist groß. Gelassenheit gilt als Gesundheitsprävention.
Im beruflichen Alltag, wenn der Umgang mit dem Chef schwierig ist, es schwerfällt, Nein zu sagen, die Kolleginnen nicht kooperativ sind und die Kunden einem auf die Nerven gehen.
In der Liebe, wenn sich zwei Menschen missverstehen, die Kommunikation nicht gelingt, sie sich übereinander ärgern, sich verletzt fühlen, Probleme unter den Teppich kehren, die Partnerschaft zum Beziehungsstress wird.
In der Familie, wenn die alten Geschwisterrivalitäten pünktlich zu jedem Geburtstag der Eltern wiederauftauchen, es immer wieder Streit zwischen den Kindern oder Stiefkindern gibt oder die Pflege der Eltern über den Kopf wächst.
Oder im alltäglichen Straßenverkehr, wenn das Auto hinter einem anfängt zu drängeln oder die Ampel in dem Moment auf Rot schaltet, wenn man es besonders eilig hat.
Wer wünscht sich da nicht, einen klaren Kopf zu behalten, die Fähigkeit, nicht aus der Haut zu fahren, im fordernden Alltag die innere Mitte zu behalten, egal, wie überfordert man sich fühlt. Souverän zu bleiben, die Fassung zu bewahren, ausgeglichen, voll orientiert und konzentriert zu sein oder ganz und gar entrückt von allem, stoisch unberührt, über allem schwebend – von Gelassenheit hat jeder Mensch eine andere Vorstellung.
Was bedeutet Gelassenheit? Sprachlich leitet sich der Begriff vom mittelhochdeutschen Wort für Gottergebenheit ab. Der Begriff findet sich zuerst in der deutschen Mystik bei dem Theologen und Dominikanermönch Meister Eckhart (1260–1328). Er beschreibt Gelassenheit als eine Haltung des Lassens und Loslassens. Seiner Erfahrung nach muss der Mensch lassen, muss loslassen, um gelassen zu werden.
Hier geht es nicht um Stressbewältigung oder eine abgeklärte Gemütsruhe. Was der Dominikanermönch beschreibt, resultiert aus Gesprächen über Fragen des Ordenslebens und den gemeinsamen Erfahrungen aus lebenslanger Gottsuche. Ihm geht es darum, dass der Mensch alles loslässt, was ihn innerlich bindet, was er sich wünscht und vorstellt.
Am Ende steht das Leer-Werden, um Raum zu haben für Gott, von ihm gefüllt, erfüllt zu werden. „Geh völlig aus dir selbst heraus um Gottes willen“, rät er, „so geht Gott völlig aus sich heraus um deinetwillen.“ Gelassenheit ist für Meister Eckhart eine menschliche Haltung im wortwörtlichen Sinne: der Mensch solle sich Gott hinhalten, sich Gott ergeben, sich ihm anvertrauen.
Gott, gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Dieses Gebet, eine deutsche Übersetzung des sog. „Serenity Prayer“ des US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr (1892–1971), hier in Kurzform, ist seit seiner Entstehung, vermutlich während des Zweiten Weltkrieges, weit verbreitet.
Der Verfasser, zu einer Phase wirtschaftlicher Depression in den USA geboren, war lange Jahre Pfarrer in Detroit und nahm dort Probleme der Industrialisierung wahr, insbesondere beobachtete er unmenschliche Arbeitsbedingungen. Auf der Suche nach einer „leistungsfähigen Anthropologie“, nach gerechteren gesellschaftlichen Verhältnissen, bemühte er sich um Antworten des Christentums auf die Krisen seiner Zeit. Während des Zweiten Weltkrieges und in Folge davon fürchtete er um den Fortbestand des Christentums und forderte eine neue Ausrichtung.
Niebuhr fand zunächst vor allem im Alten Testament für sich Vorbilder für sein theologisches Denken, insbesondere in der prophetischen Gesellschaftskritik, und dort für sich einen Ansatz für sein politisches Engagement. Bei den alttestamentlichen Propheten entdeckt Niebuhr eine Haltung, die er mit der Metapher der „Arche“ beschreibt. Sie drückt sich in einer Gelassenheit und in einer gewissen Distanz zu den Ereignissen aus, ohne dass es sich dabei um Gleichgültigkeit oder eine Form von Abschottung handelt.
Der Abstand zu den Geschehnissen resultiert vielmehr aus einem Glauben, der die Religion auch durch traumatische Erfahrungen wie die Tempelzerstörung oder das Exil hindurch bewahren kann.
Um den Verfasser des Gelassenheitsgebets zu verstehen, ist hervorzuheben, dass für Niebuhr der Kirchenvater Augustin ein Vorbild ist. Dessen besondere Leistung sieht er darin, bei der Deutung von Krisen und Katastrophen die menschliche Verantwortung nicht aus dem Blick verloren zu haben.
Das Reich Gottes ist für Niebuhr keine jenseitige, sondern eine diesseitige Welt, an der Menschen mitgestalten können. Es geht Niebuhr darum, genau hinzuschauen, was dem Menschen in ihr tatsächlich möglich ist. Er ruft auf zum Mut, die Dinge zu ändern, die in menschlichem Ermessen stehen.
Was könnten – im Anschluss an Niebuhr – heute Antworten auf die Krisen unserer Zeit sein? Welche Dinge können wir ändern? Was können wir in prophetischer Tradition für eine gerechtere Gesellschaft tun?
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat für sich eine Antwort gefunden, indem sie sich zusammen mit einem breiten gesellschaftlichen Bündnis aktiv an der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer beteiligt. Man lasse keine Menschen ertrinken. Die Kirche wolle nicht nur reden, sondern auch handeln. Im Februar 2020 stach die Sea Watch 4 in See, ein kirchliches Rettungsschiff, finanziert durch Spenden von Menschen, die den Mut haben, Dinge zu ändern. Das Retten von Menschenleben sieht die Kirche als selbstverständliche Pflicht an, als Gebot der Nächstenliebe.
Gott, gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann.
Was kann ich in meiner persönlichen Situation ändern? Nicht meinen Mitmenschen, aber mich selbst, meine Haltung zum anderen, meine Art zu kommunizieren. Am Arbeitsplatz kann ich lernen, Nein zu sagen und Grenzen zu setzen.
Ich kann üben, Lob anzunehmen. In der Partnerschaft kann ich aufhören, dem anderen etwas vorzuwerfen, und stattdessen über meine Bedürfnisse und Gefühle sprechen. Ich kann mich bemühen, meinen Kindern Raum zur eigenen Entwicklung zu geben.
Ich kann mich versöhnen mit meinen Geschwistern, auch ohne deren Zustimmung. Ich kann darauf achten, anderen etwas zu gönnen. Ich kann daran arbeiten, alte Verletzungen loszulassen. Ich kann darüber nachdenken, wofür ich meinen Eltern dankbar bin. Und in der alltäglichen Routine? Ich kann zum Beispiel im Straßenverkehr für mich sorgen, indem ich früher losfahre, um auch bei roter Ampelwelle nicht unter Zeitdruck zu geraten.
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Das Thema Gelassenheit wird nicht von ungefähr mit dem Älterwerden in Verbindung gebracht. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass Menschen im Alter immer wieder loslassen müssen. Die Kraft lässt nach. Der Beruf ist zu Ende. Die Kinder sind aus dem Haus. Der Partner ist verstorben. Die Freunde und Bekannten werden immer weniger.
Vielleicht ist das die Weisheit des Alters, wenn ein alter Mensch durch seine Lebenserfahrung zu unterscheiden gelernt hat zwischen den Dingen, die er ändern kann, und denen, die für ihn unveränderlich sind. Dazu gehört die manchmal bittere Erkenntnis, dass sich die Uhr nicht zurückdrehen, sich die Vergangenheit nicht ändern lässt.
Ein Mensch, mit dem wir gern noch einmal reden würden, ist bereits verstorben. Die Chance, die sich einmal ergeben hat, ist nicht wahrgenommen worden. Der Blick zurück ist ein ständiges Loslassen, ebenso der Blick nach vorn. Im Alter steht der Tod vor der Tür. Weisheit beginnt von alters her mit dem Nachdenken über den Tod: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. (Ps 90,12)
Biblisch gesehen hängt die Gelassenheit mit zwei weiteren Haltungen eng zusammen: mit dem Glauben und dem Gehorsam. Schon Abraham wird darin auf die Probe gestellt, indem er aufgefordert wird, seinen einzigen Sohn zu opfern und auf die Stimme Gottes zu hören. (Gen 22,2) Er zögert nicht, spaltet selbst das Holz für das Brandopfer. Abraham verlangt von sich Übermenschliches im Vertrauen auf Gott. Er ist bereit, loszulassen, zu vernichten, was er am meisten liebt. Am Ende führt dieses Loslassen bei Abraham dazu, dass er haben darf.
Einer, der in seiner Gelassenheit über die Maßen herausgefordert wurde, war Jesus von Nazareth. Er wurde im Neuen Testament zum Vorbild des Gehorsams gegenüber Gott. Sosehr er in seinem Leben dafür einstand, dass sich Dinge ändern müssen, angesichts seines Todes hat er gezeigt, was Gelassenheit, Gottvertrauen und Gehorsam in ihrer ganzen Dimension bedeuten: nicht nur hinzunehmen, was Gottes Wille ist, sondern diesem Plan, wie schon Abraham, am Ende im Vertrauen zuzustimmen. Im Garten Gethsemane, kurz vor seinem Tod, lässt er sein Leben los. Zitternd vor Angst, doch gottergeben – gelassen – betet er: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ (Lk 22,42)
Gebet:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Einen Tag nach dem anderen zu leben,
einen Moment nach dem anderen zu genießen.
Entbehrung als einen Weg zum Frieden zu akzeptieren.
Diese sündige Welt anzunehmen, wie Jesus es tat,
und nicht so, wie ich sie gern hätte.
Zu vertrauen, dass du alles richtig machen wirst,
wenn ich mich deinem Willen hingebe,
sodass ich in diesem Leben ziemlich glücklich sein möge
und mit dir im nächsten für immer überglücklich.
(Reinhold Niebuhr)
Evangelium: | Matthäus 6,19–34 |
Lesung: | 1. Mose 22,1–19 |