Mediensucht
Smartphone: Raus aus dem Druck, etwas zu verpassen
© Getty Images, erikreisAlternativen zum Medienkonsum gibt es reichlich: Sport, singen im Chor, Treffen der evangelischen Jugend und der Pfadfinder, kreative Aktivitäten ...19.02.2019 red Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
[Peter Bongard / RH] Der erste Blick auf die App „Bildschirmzeit“ hat den 15-jährigen Max ziemlich überrascht: Pro Woche hatte er über 38 Stunden am Smartphone verbracht, 5.30 Stunden am Tag. Aber laut Michael Dreier, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ambulanz für Spielsucht der Universitätsmedizin Mainz, gibt es junge Leute, die ihr Gerät noch häufiger nutzen: Jugendliche, die abhängig von digitalen Medien sind, verbringen im Schnitt fast sieben Stunden vor dem Bildschirm. 20 Prozent der 14- bis 16-Jährigen seien süchtig nach digitalen Medien oder nutzten diese zumindest „missbräuchlich“ – sie seien also kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Darüber hatte Michael Dreiers auf der Fachtagung „Mediennutzung – (k)ein Problem?“ des Diakonischen Werks Westerwald am 12. Februar im Westerburger Ratssaal gesprochen.
Alarmsignale der Mediensucht
Referent Dreier nannte in seinem Vortrag die Alarmsignale der Smartphone-Sucht: Interessenverlust, Antriebslosigkeit oder nachlassende Leistung in Schule oder Beruf. „Die Betroffenen machen selbst dann noch weiter, wenn sie die negativen Konsequenzen kennen“, sagt Dreier, der in seiner Berufspraxis mit vielen solcher Fälle vertraut ist.
Kurze Phasen exzessiven Zockens müssen aber nicht immer ein Anzeichen einer Sucht sein, schränkt er ein: „Es ist normal, dass mehr Zeit vor dem Rechner verbracht wird, wenn zum Beispiel der neue Teil eines Spiels erschienen ist. Von einer Gaming Disorder spricht man, wenn dieser Zustand länger als zwölf Monate dauert.“
Max: selbständig für mehr Lebensqualität gesorgt
Max´ Begeisterung für die Apps seines Smartphones hatte ihn zum Glück nicht in die Sucht geführt. Er hat es selbständig geschafft, seine Bildschirmzeit zu reduzieren. Ausgerechnet die Tipps eines Youtubers hatten ihn dazu motiviert: Seit mehreren Wochen legt der Frankfurter Jugendliche nun sein Handy eine Stunde vor dem Schlafengehen weg und rührt es drei Stunden nach dem Aufstehen nicht mehr an. Auch tagsüber hat er sein Verhalten geändert: „Wenn mein kleiner Brüder meint, ich müsste unbedingt dieses oder jenes Video anschauen, lasse ich es mir lieber erzählen.“ Früher hätte er eine permanente Unruhe verspürt, bloß nichts zu verpassen. Die Empfehlungen seiner Geschwister und Freunde sieht er jetzt gelassener. Max hat den Eindruck: „Viele Videos bringen ziemlich unnötige Inhalte. Da war wenig dabei, was mir wirklich etwas gegeben hat.“ Dennoch nutzt er sein Smartphone weiterhin, aber gezielter: „Ich schaue ab und zu auf Fitness-Apps und übernehme manche Übungen.“ Mittlerweile verbringt er noch zweieinhalb Stunden mit dem Smartphone. Seitdem er seine Handy-Zeit reduziert hat, hat sich auch einiges in seinem Leben verändert: Er macht mehr Sport, was ihm ein wesentlich besseres Lebensgefühl gibt. Und: „Ich kann jetzt viel besser schlafen.“
Auswege für süchtige Jugendliche
Doch auch für süchtige Jugendliche gibt es Auswege aus der Medien-Abhängigkeit. Diese können mit kleinen, täglichen Übungen beginnen – etwa mit ausgewiesenen Smartphone-freien Zonen im Haus. Das können aber auch Therapien sein, die nicht die Abstinenz von Medien, sondern den bewussten Umgang mit ihnen zum Ziel haben. Die Zeit nach einer solchen Therapie ist besonders wichtig: „Studien zeigen, dass es betroffenen Jugendliche nach einer Therapie in vielen Bereichen besser geht – außer bei den schulischen Leistungen und im Emotionalen“, weiß Michael Dreier. „Denn dann kommt oft die Erkenntnis, dass es mit der Versetzung tatsächlich nicht klappt – was wiederum zu einem emotionalen Tief führt.“ Ein wichtiger Job der Eltern ist dann, den Kindern erfüllende Alternativen zum Medienkonsum aufzuzeigen.
Die Tricks der Spiele-Branche
Besonders problematisch wird es, wenn Medienabhängigkeit nicht nur viel Kraft, sondern auch Geld kostet, etwa wenn Menschen süchtig nach sogenannten Free-to-Play-Angeboten sind. Meistens sind das Spiele, die kostenlos beginnen, für die der Spieler im weiteren Verlauf aber zahlen muss. Christian Schaack hat selbst lange bei einem großen Spiele-Entwickler gearbeitet und ist heute stellvertretender Referatsleiter Suchtprävention bei der Mainzer Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz. Während seines Vortrags zeigt er, wie mächtig die Spielebranche inzwischen ist: „Die Gaming-Industrie setzt mehr um als Hollywood und Bollywood zusammen“, sagt er. Das Bemerkenswerte: Ausgerechnet die Free-to-Play-Titel gehören zu den umsatzstärksten Spielen. Die Methoden, mit denen diese „kostenlosen“ Programme Menschen an sich binden und ihnen immer mehr Geld aus der Tasche ziehen, sind perfide, erklärt Schaack: „Diese Games beinhalten beispielsweise Bezahlschranken, die den Nutzer in besonders spannenden Momenten ausbremsen und erst dann weiterspielen lassen, wenn er gezahlt hat.“
Kaufen, um cool zu sein
Hinzu kommen die gerade bei Jugendlichen beliebten „Skins“; also Grafiken, die den eigenen Spielecharakter besser aussehen (oder kämpfen) lassen. „Falls junge Menschen da nicht mitmachen, gelten sie auf dem Schulhof als ,Freak’. Früher waren Freaks diejenigen, die wussten, was cool ist. Heute ist es genau umgekehrt.“ Zwar kosten diese Spiele-Erweiterungen kein Vermögen. Aber oft ist es die Masse an kleinen Käufen, die schon junge Spieler in massive finanzielle Schwierigkeiten bringt. „Die Kosten werden innerhalb der Programme verschleiert“, weiß Schaack und mahnt, dass die Beträge schnell in die Tausende gehen können. „Von Betroffenen wurden durchschnittlich 2600 Euro in digitale Spiele investiert. Wir sollten den Jungs und Mädchen mitgeben, dass sie sich nicht über den Tisch ziehen lassen statt ihnen generell den Computer oder die Konsole zu verbieten. Denn Medien sind integraler Bestandteil ihrer Welt. Zudem sollten die Eltern wissen, wann, wo und warum ihre Kinder Medien nutzen.“
Regeln gelten auch für Eltern
Helfen kann dabei zum Beispiel ein Zeitbudget, an das sich dann aber bitteschön die ganze Familie hält, mahnt Christian Schaack. Bei allen (Spiel-)Regeln ist das Entscheidende, dass die Eltern mit den Kindern im Gespräch bleiben – sowohl wenn der Nachwuchs über die Erlebnisse in den Games erzählt als auch wenn’s um Thema Abhängigkeit geht. „Bauen Sie in diesen Gesprächen keinen Druck auf, verwenden Sie Ich- statt Du-Botschaften und überlassen Sie die Entscheidung über das weitere Vorgehen Ihrem Gegenüber“, rät Schaack.
Digitale „Ernährungstipps“
Medien sind also nicht das Problem. Es ist die Art, wie wir mit ihnen umgehen. Deshalb passt der Vergleich mit Nahrungsmitteln, den Michael Dreier am Ende des Nachmittags noch einmal heranzieht: „Die Menschen brauchen das Essen. Aber manche essen zu viel, zu wenig oder ungesund.“ Beim Smartphone oder dem Rechner ist es ähnlich. Die digitalen „Ernährungstipps“ der Referenten und des Diakonischen Werks könnten tatsächlich helfen, den Medienkonsum künftig ausgewogener zu gestalten. (bon)
Weitere Infos und Hilfe zum Thema Medienabhängigkeit beim Diakonischen Werk Westerwald, Fachstelle Glücksspielsucht und Medienabhängigkeit, Telefon 02663/943026 oder per E-Mail an lisa.herkersdorf@diakonie-westerwald.de.