Gesellschaft
Einsamkeit: Aufmerksamkeit für schmerzliches Thema
Cebas/istockphoto.com„Wer nicht mithalten kann, steht schnell am Rand“29.04.2018 esz Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Von Renate Haller (Evangelische Sonntags-Zeitung)
Einsamkeit ist für Millionen Menschen eine schmerzliche Erfahrung. Zum öffentlichen Thema geworden ist sie 2018 nach der Ankündigung der britischen Premierministerin Theresa May, dass die Staatssekretärin für Sport und Zivilgesellschaft, Tracey Crouch, im Regierungsauftrag die Einsamkeit bekämpfen soll. Seitdem gibt es auch in Deutschland entsprechende Forderungen. Damit, so Helmut Ulrich, Geschäftsführer der Diakoniestation Frankfurt, bekommt das Thema die ihm zustehende Aufmerksamkeit. Der Psychologe Manfred E. Beutel wünscht sich von der Politik, dass sie den sozialen Zusammenhalt in den Fokus rückt. Horst Rühl, Chef der Diakonie Hessen, kritisiert den hohen Wert, den die Gesellschaft der individuellen Unabhängigkeit beimisst.
Zahl der Singlehaushalte steigt
In der Telefonseelsorge spielt Einsamkeit eine große Rolle. „Unsere Themen sind vor allem Einsamkeit, Krankheit und Beziehung“, sagt Christopher Linden, Mitglied im Leitungsteam der ökumenischen Telefonseelsorge Mainz-Wiesbaden. Dabei sei Einsamkeit „die Rückseite der Beziehungen“, denn wer Probleme in der Beziehung habe, fühle sich oft einsam. Und Menschen ohne Beziehung „fühlen sich beäugt“.
Die Zahl der Singlehaushalte steigt. Lebten in Deutschland 2006 noch 15,45 Millionen Frauen und Männer alleine, waren es 2016 bereits 16,83 Millionen. Linden stellt in seiner Arbeit einen Trend zu schwächer werdenden Familienbündnissen fest. „Wir sind oft erschüttert über die Risse, die durch Familien gehen“, sagt der Theologe und Psychologe. Das gehe oft bis zum Kontaktabbruch. Alte Menschen seien von solchen Entwicklungen besonders betroffen.
„Wer nicht mithalten kann, steht schnell am Rand“
Linden sieht ein Problem in der zunehmend geforderten Mobilität und in den räumlichen Zusammenhängen, in denen viele leben. Anonyme Siedlungen, in denen keine nachbarschaftlichen Kontakte entstehen, seien nicht gut für die Menschen. Auch viele junge Frauen und Männer seien überfordert. „Um schnell Kontakte zu finden, muss man gut aussehen, erfolgreich und sehr kommunikativ sein. Wer da nicht mithalten kann, steht schnell am Rand.“
Die Politik könne dem Problem der Einsamkeit begegnen, indem sie Projekte wie Mehrgenerationenhäuser oder generell gemeinschaftliche Wohnformen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördere. Aber auch Kirchen und andere Institutionen könnten gemeinschaftsstiftende Projekte unterstützen.
Besonders betroffen: Kinder aus armen Familien und alte Menschen
Horst Rühl, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Hessen, sieht ein Problem in der Unabhängigkeit, die inzwischen das Maß geworden sei, an dem der Wert eines Menschen gemessen werde. Dieses Streben nach Autarkie verhindere oft die Einsicht, „der Hilfe durch und der Gemeinschaft mit anderen Menschen bedürftig zu sein“. Damit werde ein wesentlicher Teil des Menschseins ausgeblendet, „das doch genau darauf gründet, in Beziehung und Angewiesenheiten zu leben“, sagt Horst Rühl auf Anfrage der Evangelischen Sonntags-Zeitung. Alte Menschen etwa stünden in Gefahr zu vereinsamen, weil sie niemandem zur Last fallen wollten. Kinder aus armen Familien, die etwa eine Unterstützung für die Klassenfahrt nicht annehmen wollten, erlebten früh das Gefühl, ausgeschlossen und einsam zu sein.
„Wir benötigen keine staatlichen Beauftragten zur Verhinderung von Einsamkeit. Wir benötigen eine Haltungsänderung der gesamten Gesellschaft, die sich von dem Wahnsinn verabschiedet, dass das menschliche Glück allein an der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung hinge“, kritisiert Rühl.
Nicht jeder will angesprochen werden
In ihrem Kerngeschäft kann auch die Kirche versuchen, der Einsamkeit zu begegnen. „Es gibt Menschen, die kommen zum Gottesdienst, weil sie einsam sind“, sagt Doris Joachim-Storch vom Zentrum Verkündigung der EKHN. Gemeinden müssten sich überlegen, wie sie diesen Menschen begegnen. „Das ist ein hochsensibles Thema“, so Joachim-Storch. Die einen wollten angesprochen werden, andere nicht. Deshalb plädiert sie für eine neutrale und freundliche Begrüßung. Wenn jemand dann wiederkomme, könne man das mit einem „wie schön, dass Sie da sind“ ruhig auch ansprechen.