Normen
Zu schräg, um immer mithalten zu können?
istockphoto, BraunSSind die Normen und Ansprüche noch sinnvoll und passend, an denen wir uns orientieren?07.02.2017 rh Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Wer kennt sie nicht: Mitschüler, Nachbarn oder Bekannte, die liebenswert sind und auf den ersten Blick völlig in Ordnung sind. Auf den zweiten auch. Doch auf den zweiten Blick offenbaren sich auch Eigenheiten: Die Mitkonfirmandin, die sich einfach nicht die zehn Gebote merken kann, der Mitschüler, der regelmäßig bei einer Vier in Mathe einen Wutanfall bekommt oder der Bekannte, der seit einem Jahrzehnt einfach keinen Job findet. Ein Blick auf ihre Lebensgeschichte zeigt, dass sie ein paar Herausforderungen mehr in die Wiege gelegt bekommen haben: beispielsweise eine schwere Geburt, bei der es zu Sauerstoffmangel im Gehirn kam, eine Hirnhautentzündung als Kind oder sie sind in einem problematischen Umfeld aufgewachsen - eine eindeutige Krankheit oder Behinderung wurde bei ihnen aber oft nicht diagnostiziert. Zum Teil sind diese Ereignisse fast vergessen, in einigen Bereichen haben diese Menschen ihr Leben ganz gut gemeistert.
Mögliche Ursachen
„Auch hier begegnen uns Menschen, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass alles in Ordnung ist. Doch dann zeigt sich, dass sie zum Beispiel Beeinträchtigungen kognitiver Art haben, also etwas länger brauchen, um Neues zu verstehen. Oder sie befinden sich emotional auf einer anderen Entwicklungsstufe“, erklärt Renate Pfautsch, Geschäftsführerin der EVIM Gemeinnützige Behindertenhilfe GmbH, eine Gesellschaft des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM), in Wiesbaden. Der Verein ist Träger von über 60 sozialen Einrichtungen und Diensten, die unter anderem auch Menschen mit Beeinträchtigungen unterstützen. Renate Pfautsch berichtet: Oft bemerke sie in der Lebensgeschichte dieser Menschen, dass sie immer wieder an ähnlichen Dingen scheitern – was in abgemilderter Form zum Teil auch viele andere Menschen von sich selbst kennen. „Aber durch ihre kognitiven Fähigkeiten gelingt es manchen Menschen weniger, Schlüsse daraus zu ziehen und die Erkenntnisse auch in Handlungen umzusetzen“, erklärt Renate Pfautsch, Diplom-Verwaltungswirtin und Pädagogin.
Rosemary Kennedy auf dem Weg in ein eigenes Leben
Eine Frau, die ein ähnliches Schicksal teilte, war Rosemary Kennedy. Sie war eine Schwester des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Ihre Mutter Rose Kennedy wird mit den Worten zitiert: „Sie war langsam in allem.“ Als Ursache für Rosemarys Lernschwierigkeiten kommt möglicherweise eine schwere Geburt in Frage, bei der Rosemarys Gehirn zu wenig Sauerstoff bekommen hat. Allerdings soll die Mutter große Zuneigung zu ihrer Tochter empfunden haben. Laut Spiegel-Online wuchs Rosemary Kennedy zu einer lebensfrohen Frau heran, schließlich machte sie eine Ausbildung zur Hilfslehrerin. Als junge Frau in England erlebte Rosemary eine unbeschwerte Zeit. Doch auf den Umzug zurück in die USA reagierte sie mit „Auflehnung und gewaltsamen Ausbrüchen“. Zuviel für Vater Joseph Kennedy. Seine Frau Rose Kennedy hatte dessen leistungsorientierten, strengen Erziehungsstil so zusammengefasst: "Sie (die Kinder) lernten, Gewinner zu sein". Diesem Ideal entsprach Rosemary nicht. Aufgrund ihres eigensinnigen und jähzornigen Verhaltens und der Furcht vor einer möglichen Schwangerschaft ließ der Vater eine Schädel-Operation an seiner Tochter unterziehen. Das hatte Folgen. Danach lebte sie als pflegebedürftige Schwerbehinderte in einer Heilanstalt.
Sich von einigen gesellschaftlichen Erwartungen befreien
„Solche Gehirnoperationen werden heute nicht mehr durchgeführt. Aber das Muster gibt es noch“, so Renate Pfautsch. Denn sie hat den Eindruck, dass auch gegenwärtig manche Betroffenen unter hohem Erwartungsdruck stehen und von einer Fördermaßnahme zur nächsten Therapie geschickt werden. Sie erklärt: „Oft geht es um Normen und gesellschaftliche Erwartungen und nicht mehr um den Betroffen selbst.“ Zum Teil hätte das Umfeld ein genaues Bild im Kopf, wohin ein Mensch sich optimal entwickeln solle. Um dies zu erreichen, würden teilweise große Anstrengungen unternommen. Doch oft merkten die Betroffenen, dass sie dieses Ziel nicht erreichen könnten – eine Erfahrung, unter der viele leiden. Die Expertin macht Mut: „Menschen mit Lernbehinderungen können ein zufriedenes Leben führen, wenn sie nicht am Bild der Gesellschaft scheitern.“ Wer dagegen unter Verhaltensauffälligkeiten leide, stehe möglicherweise vor einigen Herausforderungen. So zeigten manche Betroffenen aggressives Verhalten, weil sie sich beispielsweise nicht verstanden fühlten. Hier sei es für das Umfeld und Therapeuten notwendig, sich Zeit zu nehmen und den tieferen Ursachen auf den Grund zu gehen.
Herausforderung für Eltern
Die Geschäftsführerin signalisiert viel Verständnis für betroffene Eltern: „Eltern stehen unter dem Druck, ihre Kinder optimal zu fördern, sie wollen nichts versäumen, nichts falsch machen.“ Sie stünden vor einer Gratwanderung, bei der es gelte herauszufinden: Wann macht es Sinn zu fordern? Wann macht es Sinn, Grenzen zu akzeptieren? Sie empfiehlt Eltern, dabei das Kind im Blick zu behalten. Eltern sollten sich fragen: „Geht es dem Kind noch gut damit?“ Angehörigen und Freunden ermutigt die Geschäftsführerin in problematischen Situationen zu einem Perspektivwechsel: „Wie könnte dieser Mensch diese Situation emotional erleben? Warum empfindet er diese bestimmte Situation z.B. als bedrohlich?“ Sie empfiehlt, seinen Wünschen auf die Spur zu kommen sowie nicht nur seine Defizite in den Blick zu nehmen, sondern bewusst auf seine Möglichkeiten und Fähigkeiten zu achten.
Ein zufriedenes Leben ist möglich – eine wahre Geschichte
Den Mut und die Zuversicht, die sie durch die eigene Berufspraxis gewonnen hat, möchte Renate Pfautsch weitergeben: „Menschen mit Lernbeeinträchtigungen können mit ihrem Leben gut zurecht kommen!“ Und sie beginnt von einem jungen Mann mit geistigen Einschränkungen zu erzählen, der heute sehr zufrieden mit seinem Leben ist. Er hatte das Glück, dass er mit seinen Beeinträchtigungen so akzeptiert wurde und er bekam in einer EVIM-Werkstatt für behinderte Menschen einen Platz. Anfangs sei er eher durch viele Fehltage bei der Arbeit in der EVIM-Werkstatt aufgefallen. „Doch dann ist er aufgeblüht und arbeitet total gerne, hat sich weiter gebildet“, erzählt Renate Pfautsch. Und nun kenne seine Freude keine Grenzen, denn er habe jetzt eine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt gefunden. Nun stehe ihm die Zukunft im Handwerk offen und auch privat sei er in einer Liebesbeziehung glücklich.
Beratungsstelle aufsuchen und neue Perspektiven entwickeln
Doch nicht jeder hat die Chance, sich in einer Art „Schonraum“ mit passenden Impulsen entwickeln zu dürfen. Manche quälen sich von Jobabsage zu Jobabsage. Manche sind zwar beruflich erfolgreich, privat aber sehr einsam. Und da können Freunde, Bekannte und die Familie – und die Betroffenen selbst - an Grenzen kommen. Deshalb ermutigt Renate Pfautsch: „Ich rate dazu, eine Beratungsstelle aufzusuchen.“ Dabei empfiehlt sie die Psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen der Diakonie oder der EVIM, aber auch die Sozialpsychiatrischen Dienste der Gesundheitsämter.
Sie empfiehlt, im Beratungsgespräch konkret nachzufragen:
- Welche Stärken und Fähigkeiten sind vorhanden und können weiter entwickelt werden?
- Welche hinderlichen Muster haben bisher im Beruf und Privaten das Leben erschwert?
- Wie lassen sich diese Muster auflösen und ersetzen?
- Welche Vorstellungen hat der/die Betroffene von einer glücklichen Partnerschaft? Wie lassen sich die Voraussetzungen schaffen, damit sich seine Wünsche evtl. verwirklichen?
- Welche weiteren Angebote im Gesundheits- und Hilfebereich könnten außerdem weiterhelfen?
- Welche Berufs-Integrations-Angebote gibt es in der Region
Sozialpsychiatrische Dienste der Gesundheitsämter in Hessen