Kirchenmitglieder-Studie
Wie fit sind die Kirchen für die Zukunft?
Bild:© Getty Images, arthobbitDie Bindung an die Kirche - was stärkt, was schwächt?03.05.2019 rh Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Nachdem die Ergebnisse der „Mitglieder- und Kirchensteuervorausberechnung“ den Kirchenvertreterinnen und -vertretern Ende April 2019 auf dem Tisch lagen, lautete der Tenor: „Das haben wir so erwartet.“ Aber gewünscht hat sich diese Zahlen, die Wissenschaftler im Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Albert-Ludwig-Universität Freiburg errechnet hatten, vermutlich niemand aus dem kirchlichen Bereich: Danach werden die Mitgliederzahlen der evangelischen und katholischen Kirchen bis zum Jahr 2060 um rund die Hälfte zurückgehen. Während es in diesem Jahr noch rund 45 Mio. Mitglieder in beiden Kirchen sind, werden es laut Prognose in 41 Jahren gerade mal 22 Millionen sein. Zur EKHN werden dann noch 760.000 Menschen gehören, gegenwärtig sind es rund 1,5 Mitglieder.
Dieser Rückgang wird sich auch auf die Kirchenfinanzen auswirken. Im Jahr 2060 wird den Kirchen nur knapp die Hälfte ihrer Kaufkraft zur Verfügung stehen, um Personal- Sach- und sonstige Kosten abzudecken. Das war die schlechte Nachricht.
Grafik: Prognostizierte Mitgliederentwicklung in der EKD (jpg)
Grafik: Pognostizierte Mitgliederentwicklung in der EKHN (jpg)
Veränderungspotentiale nutzen trotz künftig härterer Zeiten
Für Dr. Volker Jung, den Kirchenpräsidenten der EKHN, haben die Studienergebnisse auch positive Aspekte: „Die gute Nachricht ist: Im Jahr 2060 gibt es die EKHN noch. Allerdings in einer kleineren Größenordnung. Zudem gibt die Studie Hinweise, wo wir für eine günstigere Entwicklung ansetzen müssen.“ Außerdem zeigten die Zahlen, dass Kirche in der Vergangenheit auch viel richtig gemacht habe. So habe die EKHN die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse konstruktiv aufgegriffen, beispielsweise mit Spezial-Seelsorge-Angeboten, dem Jugendkirchentag oder Funktionsstellen. Im Gegensatz zur EKHN sei beispielsweise in den Niederlanden ein wesentlich deutlicherer Abwärtstrend zu beobachten. Landebischof Heinrich Bedford-Strohm, der EKD-Ratsvorsitzend macht deutlich, worauf es aus seiner Sicht ankommt: "Die Zukunft der Kirche entscheidet sich nicht an ihren Mitgliedschaftszahlen, sondern an ihrer Ausstrahlungskraft. Alle gemeinsam sind wir Kirche und wollen mit fröhlichem Gottvertrauen die Zukunft gestalten." Auch Prof. Andreas Barner äußerte sich als Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands in einem ersten Statement: „Nicht alle erwarteten Entwicklungen sind so gottgegeben, dass wir sie nicht verändern könnten. Die Studie ermuntert die Kirchen, neue Fragen anzugehen.“ Der promovierte Mathematiker und Mediziner, der gegenwärtig Mitglied im Gesellschafterausschuss von Boehringer Ingelheim ist, hatte zu dem Team gehört, das einer Gruppe von Journalisten die Zahlen präsentiert hatte.
Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, der die Studie geleitet hatte, fand aber auch ernüchternde Worte: „Die Kirchen werden sich auf härtere Zeiten einstellen müssen.“
Demographische Entwicklung nur zu einem Drittel als Ursache für den Mitgliederrückgang
Eine Ursache für den erwarteten Mitgliederrückgang ist zum Teil die demographische Entwicklung in Deutschland. Denn die Zahlen der zukünftig zu erwartenden evangelischen und katholischen Sterbefälle überwiegen die Zahl der Kinder, die von christlichen Müttern zur Welt gebracht werden und die Anzahl der christlichen Zuwanderer aus dem Ausland. Die demografischen Ursachen lassen sich kaum beeinflussen; auf den dadurch verursachten Rückgang müssen sich die Kirchen einstellen. Jedoch bedingen die demografischen Faktoren den Mitgliederrückgang der Kirchen bis zum Jahr 2035 nur zu einem Drittel.
Tauf- Austritts- und Aufnahmeverhalten eröffnen Spielräume
„Zwei Drittel des Mitgliederrückgangs werden durch Faktoren bestimmt, die beeinflussbar sind“, so Professor Raffelhüschen. Damit wies er auf das Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten von Kirchenmitgliedern hin, das einen großen Einfluss auf die Mitgliederentwicklung habe. Dadurch zeigte Bernd Raffelhüschen das Potential auf, mit dem die Kirchen ihre künftige Lage aktiv mitgestalten können. Der Finanz-Chef des katholischen Erzbistums Berlin, Bernd Jünemanne, regte an, Chancen zu nutzen: „Es gibt durchaus Hoffnung, denn es gibt viele Einflussfaktoren, die wir aufgreifen müssen.“ Auch EKD-Ratsmitglied Andreas Barner motivierte, die Weichen zu stellen: „Jetzt sollten die Kirchen substanziell überlegen was zu tun ist, um die nicht-demografischen Faktoren zu beeinflussen.“
Hohe Austrittswahrscheinlichkeit bei 25- bis 34-Jährigen
Bei diesen Überlegungen könnten auch die 25- bis 29-jährigen Männer ins Auge gefasst werden, denn bei dieser Gruppe ist die Austrittswahrscheinlichkeit am höchsten. Fast drei Prozent eines Jahrganges treten aus, bei den Frauen sind es in dieser Altersgruppe immerhin 2,2 Prozent. Die Studie zeigt auch, dass die Altersgruppen mit höheren Austrittszahlen mit der Erwerbsphase zusammen fallen.
Kirchenpräsident Jung weist auf besonders hohe Austrittszahlen im Rhein-Main-Gebiet hin. Er sucht nach Ursachen: „Hier könnten die finanziellen Belastungen junger Leute eine Rolle spielen. Auch eine junge Ärztin oder ein junger Arzt muss sich Gedanken um die steigenden Mieten machen. Ich nehme an, dass in dieser Lebensphase das Thema Kirchensteuer bei den Abwägungsprozessen eine größere Rolle spielt.“ Kirchenpräsident Jung geht davon aus, dass die Austritte auch ein Signal für eine schwächere innere Bindung an die Kirche sein könnten und dass manche Menschen eventuell nicht über die wertvolle Arbeit der Kirchen genügend informiert seien.
Grafik: Austritte in der EKD nach Alter (jpg)
Grafik: Austritte in der EKHN nach Alter (jpg)
Kirchen spüren gesamtgesellschaftliche Trends
Neben den demografischen Ursachen für den Rückgang vermutet Andreas Barner weitere Aspekte für den Rückgang: „Hier zeigen sich auch größere säkulare Trends. Menschen sind heute weniger bereit, sich an große Organisationen zu binden. Beispielsweise haben die großen politischen Parteien seit Anfang der 90er Jahre im Schnitt die Hälfte ihrer Mitglieder verloren.“ Barners Einschätzung stimmt auch Kirchenpräsident Jung zu: „Auf Trends wie die Säkularisierung und Individualisierung haben wir keinen großen Einfluss. Beispielsweise ist die Säkularisierung ein typisches Merkmal von Wohlstandsgesellschaften. Auch die Entwicklung, dass Menschen sich eher von Institutionen abwenden, können wir nicht zeitnah kippen.“
Unterschiede bei Konfessionen bei Aus- und Eintritten
Bei den Austritten fallen zudem Unterschiede zwischen den Konfessionen ins Auge: Tatsächlich treten mehr Menschen aus der evangelischen Kirche als aus der katholischen Kirche aus – selbst wenn die Austrittsspitzen mit Skandalen in der katholischen Kirche zusammenfallen. Der studierte Volkswirt Bernd Raffelhüschen bringt hier einen weiteren Aspekt ins Spiel: „Die höheren Eintrittszahlen in die evangelische Kirche gleichen diesen Unterschied wieder aus.“
Anzahl der Taufen wird sinken
Die höheren Austrittszahlen bei den 25- bis 34-Jährigen haben auch Folgen für mögliche neue Kirchenmitglieder. Denn die Wahrscheinlichkeit ein Kind taufen zu lassen, hängt wesentlich von der Konfession der Eltern ab. „Bei vielen Paaren wird um das 31. Lebensjahr das erste Kind geboren – doch dann sind einige Eltern bereits aus der Kirche ausgetreten. Das hat Auswirkungen auf das Taufverhalten“, erklärt Bernd Raffelhüschen. Durch eine immer geringere Anzahl von evangelischen und katholischen Müttern wird sich der Anteil von Kindertaufen an allen Geburten in Deutschland zunehmend verringern: Im Jahr 2017 lag der Anteil der Taufen noch bei 43 Prozent, in 41 Jahren wird er bei 22 Prozent liegen.
Die meisten Taufen finden bis zum Alter von zweieinhalb Jahren statt. Danach sinkt die Anzahl der Taufen rapide und ist vom elften bis 16. Lebensjahr rund um die Konfirmation etwas erhöht.
Grafik: Prognostizierte Anzahl der Kindertaufen in der EKHN (jpg)
Was nun?
Die Studienergebnisse rufen nach Strategien und konkreten Maßnahmen, um die Chancen der beeinflussbaren Faktoren zu nutzen. Bernd Raffelhüschen gab erste Hinweise: „Künftige Strategien sollten sich an der Austrittswahrscheinlichkeit von jungen, steuerzahlenden Menschen orientieren. Wenn die Kirche bemerkt, dass sich Mitglieder zurückziehen, könnte sie den Kontakt aufnehmen.“ Diesen Ansatz unterstützt auch Kirchenpräsident Jung: „Die Studie stellt die große Anfrage an uns: Wie können wir den Kontakt zu den Menschen zwischen 20 und 35 Jahren halten?“ Zudem plädierte der Kirchenpräsident dafür, anhand bereits vorhandener und neuer Studien herauszufinden, was die Kirchenmitglieder in den unterschiedlichen Lebensphasen bewegt, vor allem wenn sie wichtige Lebensentscheidungen treffen.
Andreas Barner nennt einen weiteren Aspekt: „Für die Kirchen wird es ein wesentliches Element sein, ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in sie zu stärken. Gegenwärtig stehen hier die Fragen zum Thema sexueller Missbrauch an. Für alle Verantwortlichen in den Kirchen heißt es, dieses Thema in aller Ernsthaftigkeit aufzuarbeiten, damit es in Zukunft nicht mehr passiert.“
Allerdings weisen die Freiburger Forscher auch darauf hin, dass die Vorausberechnungen annahmebasiert sind. Durch unvorhergesehene Ereignisse könnten die Anzahl der Kirchenmitglieder und die Finanzlage später anders aussehen. Grund genug dafür, dass sich auch die bevorstehene Kirchensynode der EKHN ab kommendem Donnerstag intensiv mit der Studie befassen will.
Erste Impulse für die Zukunft der Kirchen
In den Gesprächen und Diskussionen tauchen weitere Denkanstöße zu Maßnahmen auf:
Bedürfnisse der Mitglieder und Kommunikation
- Wie können wir mit jungen Leuten Ideen entwickeln? Ein Beispiel war der Schwerpunkt „Zukunft auf gutem Grund“ der EKD-Synode, wobei z.B. über alternative Beteiligungsmöglichkeiten nachgedacht wurde.
- Wie können wir die Kommunikation mit den Mitgliedern verstärken? Wir könnten das Signal geben: Wir sind für euch da, wir greifen eure Lebenssituation auf.
- Wie können wir die Digitalisierung nutzen, um bei jüngeren Menschen die Affinität zur Kirche zu verstärken?
- Wie können wir die tiefere, die theologische Bedeutung z.B. von Kasualien noch verständlicher vermitteln und ihren Lebensbezug deutlich machen?
- Wie wollen wir erforschen, was Menschen in den unterschiedlichen Altersgruppen bewegt?
- Wie finden wir heraus, was Kirchenmitglieder zum Bleiben bewegt?
- Wie können wir während der Konfizeit das ehrenamtliche Engagement von Jugendlichen für die Kirche stärker wecken? Studien haben gezeigt, dass Jugendliche, die sich z.B. als Teamer für den nächsten Jahrgang oder im Gemeindepraktikum eingesetzt haben, sich später mehr mit der Kirche verbunden fühlen.
- Wie können wir an die größtenteils positiv bewerteten Erfahrungen der Jugendlichen während der Konfizeit anknüpfen, um auch in Zukunft den Kontakt zu pflegen?
- Wie können wir z.B. bei Kasualgesprächen noch besser den familiären Einfluss auf die religiöse Sozialisation berücksichtigen?
- Welche Angebote können wir entwickeln, um noch besser den Bedürfnissen der unterschiedlichsten Lebensformen entgegenzukommen? Beispielsweise werden Tauffeste besonders gut von Patchworkfamilien oder Alleinerziehenden angenommen.
- Welchen Mehrwert haben unsere Mitglieder von der Mitgliedschaft?
Zu den Angeboten und Aufgaben der Kirche
- Wie können wir inhaltlich noch stärker werden?
- Welche Gottesdienstformen sollten wir genauer in Augenschein nehmen?
- Wie können wir Kernbereiche der Kirche, z.B. die diakonischen Aufgaben stärker stützen?
- Wie gehen wir mit der zunehmende Bereitschaft um, sich ehrenamtlich in diakonischen Projekten zu engagieren?
- Wie können wir Menschen ansprechen und organisatorisch unterstützen, die sich ehrenamtlich in zeitlich begrenzten Projekten engagieren möchten?
- Wie wollen wir unsere Angebote weiterentwickeln, die besonders gut nachgefragt sind, wie beispielsweise konfessionelle Schulen und Kitas?
Zu Synergien
- Wie können wir mögliche Synergien zwischen EKD und Landeskirchen stärker nutzen?
- In welchen Bereichen können evangelische und katholische Kirche stärker zusammenarbeiten?
Effizienz und Finanzierung
- Welche Verpflichtungen können wir auch künftig tragen?
- In welchen Bereichen möchten wir Prioritäten setzten?
- Wie können wir effizienter durch technischen Fortschritt die Verwaltung organisieren?
- Sollten wir vermehrt den Verkauf und die Vermietung von Kirchengebäuden ins Auge fassen?
- Wie lassen sich zusätzliche finanzielle Mittel generieren, beispielsweise durch Fundraising?
Apropos Kirchensteuer
Vor dem Hintergrund des Mitgliederrückgangs stand auch die Frage im Raum, ob die Kirchensteuer noch zeitgemäß sei. Die Kirchenvertreter plädierten dafür, sie beizubehalten. Kirchenpräsident Jung wies darauf hin, dass der Staat darauf setze, dass die Zivilgesellschaft auch von religiösen Gemeinschaften mitgetragen werde. Er betonte: „Ohne die Kirchensteuer wird es für die Kirche nicht mehr möglich sein, ihr Leistungsspektrum für die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wenn wir uns über Mitgliedsbeiträte und Spenden finanzieren müssten, wäre die kirchliche Kultur wesentlich gemeindezentrierter und gesamtgesellschaftlich wären wir weniger erkennbar.“ Barner nannte zudem praktische Gründe: „Sie ist die einfachere Art der Erhebung.“