Klage zweier Dekanate mit Folgen für ganz Deutschland?
Verwaltungsgerichtshof stärkt Schutz des Sonntags
Matthias Mittenendzwei /pixelio.deBierbrauen am Sonntag?12.09.2013 vr Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
EKHN/OeserUlrike Scherf, Stellvertreterin des Kirchenpräsidenten, kämpft für die Sonntagsruhe.Darmstadt, 12. September 2013. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel vom Donnerstag (12. September) zur Sonntagabeit in bestimmten Branchen wie Brauereien, Call-Centern und Eisfabriken begrüßt. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass die sogenannte Bedarfsgewerbeverordnung des Landes Hessen aus dem Oktober 2011 gegen den Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe verstößt, wie sie in Artikel 140 des Grundgesetzes verankert ist.
Der Bund hätte entscheiden müssen
Womöglich hat das Urteil nun sogar Folgen für ganz Deutschland. Die Richter betonten, dass ein solch tiefgreifender Einschntt in die Sonn- und Feiertagsregelungen nicht vom Land, sondern nur auf Bundesebene hätte entschieden werden dürfen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Eine Revision vor dem Bundesverwatungsgericht in Leipzig ist möglich.
Dekanate aus Südhessen hatten geklagt
Die bisherige Hessische Bedarfsgewerbeverordnung sieht vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beispielsweise in Videotheken, Brauereien, Unternehmen von Roh- und Speiseeis, sowie Lotto- und Totogesellschaften an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden dürfen. Dagegen hatten die Evangelischen Dekanate Darmstadt Stadt und Vorderer Odenwald gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di in Hessen geklagt.
Familien leiden besonders unter flexibler Arbeitszeit
"Ich freue mich sehr, dass der Hessische Verwaltungsgerichtshof unserer Argumentation gefolgt ist", so die stellvertretende Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Ulrike Scherf. Nach ihren Worten sind Sonntage und Feiertage dazu da, "sich zu erholen, zu besinnen und gemeinsame Zeit zu verbringen". Sie seien wichtig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Familien litten zudem zunehmend unter flexiblen Arbeitszeiten und fänden immer weniger Zeit füreinander. "Bei allen berechtigten Interessen der Wirtschaft haben die Bedürfnisse der Menschen Vorrang", sagte Scherf.
Synode hatte die Regelungen schon 2012 kritisiert
Die Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau hatte die hessische Landesregierung bereits auf ihrer Frühjahrstagung 2012 aufgefordert, die Bedarfsgewerbeverordnung zurückzunehmen. Arbeitsfreie Sonn- und Feiertage sollten dem Menschen und der Gesellschaft dienen, indem sie gemeinschaftliches Handeln in Familie, Freundeskreis, Kirche und Verein ermöglichen und dadurch soziale Beziehungen stärken, die für ein friedvolles Zusammenleben unerlässlich sind.
Hintergrund
Mitteilung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 12. September 2013:
Beschäftigung von Arbeitnehmern in Callcentern an Sonn- und Feiertagen unzulässig: Der 8. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs hat mit einem heute verkündeten Urteil einige Bestimmungen der Verordnung der hessischen Landesregierung über die Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen (Bedarfsgewerbeverordnung) vom 12. Oktober 2011 für unwirksam erklärt.
Die aufgrund von Normenkontrollanträgen der Gewerkschaft ver.di und zweier südhessischer Dekanate der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ergangene Entscheidung betrifft vor allem die Beschäftigung von Personal in so genannten Callcentern, zum Beispiel im Versandhandel, beim Online-Banking oder im Reisegewerbe. Für diese Bereiche war in der Bedarfsgewerbeverordnung die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen ganzjährig für jeweils bis zu acht Stunden zugelassen worden.
Die Ungültigkeit dieser Ausnahmebestimmung beruht nach der mündlichen Urteilsbegründung auf dem Fehlen einer ausreichenden Verordnungsermächtigung durch den zuständigen Bundesgesetzgeber im Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1994. Zwar enthalte dieses seither mehrfach geänderte Gesetz eine gestaffelte Verordnungsermächtigung für Ausnahmeregelungen der Bundesregierung und der Landesregierungen. Jedoch müsse nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts bei Eingriffen in Grundrechte der Gesetzgeber selbst alle wesentlichen Grundentscheidungen selbst treffen und dürfe diese nicht der Exekutive überlassen. Deshalb lasse die Verordnungsermächtigung im Arbeitszeitgesetz so tief greifende Ausnahmen vom Gebot der Sonn- und Feiertagsruhe nicht zu. Dieses im Grundgesetz und in der Verfassung des Landes Hessen verankerte Gebot diene nicht nur dem Schutz des Grundrechts auf Religionsfreiheit, sondern auch der Gewährleistung anderer Grundrechte wie etwa der Koalitionsfreiheit, auf die sich die Gewerkschaften berufen könnten.
Als dem Gesetzgeber vorbehaltene Grundentscheidungen in diesem Sinne hat der Verwaltungsgerichtshof auch die Ausnahmen vom Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen für Brauereien und andere Betriebe der Getränkewirtschaft sowie für Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis angesehen. Für diese Gewerbezweige und entsprechende Großhandelsbetriebe hatte die Landesregierung in der Bedarfsgewerbeverordnung für die Sommerhalbjahre die Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an diesen geschützten Tagen jeweils bis zu acht Stunden zugelassen.
Die ebenfalls für unwirksam erklärten Ausnahmeregelungen für Videotheken und Bibliotheken in kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft (ganzjährig ab 13 Uhr für jeweils bis zu sechs Stunden) sowie für Lotto- und Totogesellschaften mit der elektronischen Geschäftsabwicklung (ohne Annahmestellen ganzjährig für bis zu acht Stunden) hat der Senat zwar wegen ihrer geringen Auswirkungen nicht als dem Gesetzgeber vorbehaltene Grundentscheidungen angesehen, so dass hier eine Regelung durch Rechtverordnung verfassungsrechtlich zulässig gewesen sei. Die Verordnungsermächtigung durch den Bundesgesetzgeber setze aber voraus, dass weitere Ausnahmen zum Schutzgebot für Sonn- und Feiertage „zur Vermeidung erheblicher Schäden“ erforderlich sind. Dies sei weder bei Videotheken bzw. Büchereien noch bei Toto- und Lottogesellschaften der Fall, denn die mit der Einhaltung des Arbeitsverbots an Sonn- und Feiertagen verbundene Verlagerung der Arbeiten auf Werktage habe für die betroffenen Einrichtungen und ihre Kunden nur geringfügige Nachteile zur Folge.
Auch die Ausnahmeregelung für „im Buchmachergewerbe zur Annahme von Wetten für Veranstaltungen für bis zu sechs Stunden“ hat der Senat für unwirksam erklärt, da nicht hinreichend bestimmt normiert sei, für welche Art von Veranstaltungen die Ausnahmeregelung greifen solle.
Die Revision gegen sein Urteil hat der Verwaltungsgerichtshof wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Über ein solches Rechtsmittel hätte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu entscheiden.
Aktenzeichen: 8 C 1776/12.N