Immer mehr Menschen holen sich bei den Tafeln etwas zu essen. Der Staat will die Verteilung der Lebensmittel einfacher machen, zieht sich ansonsten aber aus der Verantwortung.
Tafeln in Not
12.11.2019 esz Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
esz / N. KohlheppRenate HallerDie Verantwortlichen der Tafelarbeit schlagen Alarm. Abermals gestiegen ist die Zahl der Menschen, die sich dort Brot und Äpfel, Joghurt und Milch abholen, weil sie die Preise im Supermarkt nicht bezahlen können. Im Oktober diesen Jahres waren es 1,65 Millionen Frauen, Männer und Kinder. Das sind zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Besonders Alte sind betroffen: Bei ihnen beträgt der Anstieg 20 Prozent.
Das allein ist schlimm genug, aber noch nicht das ganze Problem. Es fehlt an Kühlfahrzeugen und Lagerkapazitäten, es fehlt an Helfern – das Ehrenamt stößt an seine Grenzen. Jochen Brühl, Vorsitzender des Vereins »Die Tafeln Deutschland«, fordert deshalb staatliche Unterstützung, um Hauptamtli che einstellen zu können.
Statistisch gesehen schmeißt derzeit jeder Bundesbürger pro Jahr 75 Kilo Lebensmittel in die Tonne. Zu viel, findet Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU). Beim Nationalen Dialogforum zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung forderte sie vorige Woche deshalb innovative Lösungen. Eine davon ist eine Online-Plattform, die es Unternehmen leichter machen soll, Lebensmittel abzugeben. Mit Hilfe einer App können sich Tafeln und Unternehmen abstimmen. Für diese Plattform will Klöckners Ministerium 1,5 Millionen Euro bereitstellen. Mit der digitalen Hilfe soll es gelingen, 40 Prozent mehr Lebensmittel zu retten.
Das klingt zunächst nach einer guten Sache. Lebensmittel gehören auf den Teller und nicht in die Tonne. An den Bedürfnissen der Tafeln aber geht der Ansatz vorbei. Schon jetzt, so Brühl, können die Tafelmitarbeiter nicht alle Spenden abholen, die ihnen angeboten werden.
Seit Beginn der Tafelarbeit monieren Kritiker, dass die Helfer es mit ihrer guten Tat ermöglichen, dass sich der Staat seiner Verantwortung entzieht. Er hat nämlich die Existenz seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Der Vorschlag Klöckners geht leider in die gleiche Richtung. Beim Versuch, mehr Lebensmittel zu retten, bekommen die Ehrenamtlichen noch mehr Arbeit aufgebürdet. Das ist, als wolle man einen erschöpften Sportler anhalten, sein Training doch bitte zu intensivieren.
In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der Staat auch in einem anderen Bereich seinen Pflichten nicht nachkommt. Die Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger, die nicht zu einem Termin erscheinen oder eine andere Regel verletzen, dürfen höchsten 30 Prozent der Regelleistung betragen. Bislang wurden diese auch mal zu 60 oder gar 100 Prozent ausgesetzt. Das bedeutete, dass jemand über Monate hinweg keinerlei finanzielle Unterstützung erhielt.
Macht ja nichts, es gibt ja die Tafeln«, könnte man zynisch anmerken. Und tatsächlich gibt es Mitarbeiter in den Jobcentern, die Menschen zu den Tafeln schicken. Das werden sie wohl auch weiterhin tun, aber sie dürfen ihnen nicht mehr nehmen, was ihnen zusteht, und das ist das Existenzminimum.
Sicher werden davon auch Menschen profitieren, die schlicht keine Lust haben, selbst für ihr Auskommen zu sorgen, Menschen, die sich gerne in der viel zitierten sozialen Hängematte ausruhen. Diese Menschen wird es immer geben, egal wie streng Gesetze formuliert sind. Ihretwegen aber all die anderen zu bestrafen, die krank oder anderweitig belastet sind und Hilfe brauchen, kann nicht Ziel des Staates sein.
Und es kann auch nicht sein, dass die Tafeln in immer größerem Umfang die Aufgaben des Staates übernehmen sollen. Es ist höchste Zeit, dass Politikerinnen und Politiker erkennen, in welchem Umfang es Armut in diesem reichen Land gibt. Dagegen müssen sie mehr tun. Das Hilfesystem Tafel ist hilfsbedürftig.Von Renate Haller