Kirche und Demokratie
Bewegt bürgerschaftliches Engagement mehr als klassische Demokratie?
Martin ReinelWohin entwickelt sich die Demokratie?06.06.2015 jl Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Johannes LöschKirchentagsteilnehmer in der WaggonhalleBürgerinitiativen und Volksbewegungen haben ein Problem. Entweder ihr Anliegen bleibt ungehört, wird ignoriert oder abgeschmettert. Oder sie setzen sich durch. Das aber führte im „Arabischen Frühling“ und im ehemaligen Ostblock häufig zu autoritären Systemen, die ihrerseits die Freiheit anderer Menschen unterdrücken. Wieviel Mitbestimmung und Mitsprache ist angemessen?
Demokratie als Grundstruktur des Kirchentags
Der Kirchentag ist seit jeher von politischen Themen geprägt. Wer hierhin kommt, bringt seine Fragen und eigene Antworten darauf mit, diskutiert mit anderen Christen und Nichtchristen die eigenen Standpunkte und fährt, nach knapp fünf intensiven Tagen, hoffentlich etwas klüger wieder nach Hause. Dieses Ziel hat sich der 35. Kirchentag in Stuttgart zur Losung gemacht. ‚Damit wir klug werden’ soll die Besucher dazu bringen, sich selbst zu hinterfragen und sich von anderen – und von Gott – bereichern zu lassen.
Strompiratin und engagierte Opernsängerin mischen mit
Am Freitagabend kamen in der „Straßenbahnwelt“, einer alten Waggonhalle, Menschen zusammen, die sich in lokalen Projekten für das Gemeinwesen engagieren. Teils mit der Politik zusammen wie in der „Bürgerplattform Wedding-Moabit“, teils ohne sie. So war mit Luise Neumann-Cosel eine Berliner „Strompiratin“ anwesend, die mit ihrem Verein den Rückkauf des privatisierten Stromnetzes betreibt und gegen den Stromriesen Vattenfall kämpft. So unterschiedliche Facetten die ehrenamtliche Arbeit der vorgestellten Personen auch beleuchteten: Gemeinsam ist ihnen der Wille, mehr für die Gesellschaft zu geben als nur die Stimme an der Wahlurne. Zum Beispiel über ein Musicalprojekt mit syrischen Flüchtlingen, das die Opernsängerin Cornelia Lanz unter großem Beifall vorstellte und ihren Chor auch daraus singen ließ. Die Projekte zeigten: Wenn sich genügend Unterstützende finden, entstehen leistungsfähige Ergebnisse. Die Initiatorinnen waren sich einig, dass bürgerschaftliches Engagement es besser schaffe, Ungerechtigkeit zu benennen und abzustellen als die Lokalpolitik oder Verwaltung das könne.
Kirche lernt noch, was Demokratie bedeutet
Auch die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) schickte einen Vertreter. Im doppelten Sinne. Für den kurzfristig erkrankten ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber sprang Kirchenpräsident Volker Jung aus der EKHN ein. Er schilderte die Erfahrungen, die Kirche mit Demokratie und demokratischer Mitbestimmung gemacht habe. Er verschwieg auch nicht, dass bis 1945 gerade die Evangelische Kirche in Deutschland eine Gegnerin der Demokratie gewesen sei. Auch heute noch tue sich die Kirche schwer, sich als eine „zivilgesellschaftliche Akteurin unter vielen“ (u.a. Gewerkschaften, Verbände, Parteien) zu verstehen. Diese Neudefinition sei in der heutigen pluralen Gesellschaft jedoch notwendig.
Auf wessen Seite stellt sich die Kirche?
Jung sieht die Kirchen heute als „ein kritisches Gegenüber zum Staat“. Was genau das im Einzelnen heiße, müsse aber jeweils neu gefragt werden. Der Flughafenausbau in Frankfurt habe gezeigt, dass die EKHN nicht gleichzeitig Schlichterin zwischen den Konfliktparteien sein und selbst eine eigene Position beziehen könne. Die Kirche habe sich als Vermittlerin angeboten und einen Kompromiss ausgehandelt. Gleichzeitig positionierte sie sich stark auf der Seite der Flughafengegner, was den Flughafenbetreiber dazu veranlasste, den Kompromissvorschlag zu ignorieren und den Flughafen trotzdem auszubauen. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen habe der Kirche damals eine klare Rollenklärung gefehlt. „Man kann nicht gleichzeitig gesellschaftlicher Akteur sein und sich als Mediator anbieten.“
Quo vadis, kirchliche Demokratie?
Eine Landeskirche setzt sich allerdings auch mit ihren eigenen demokratischen Strukturen auseinander. So haben an der Kirchenvorstandswahl im April etwa 20 Prozent der EKHN-Mitglieder teilgenommen. Für eine „echte Demokratie“ sei das recht wenig, auch wenn einige politische Kommunalwahlen mittlerweile ähnlich geringe Beteiligungen ergäben. 20 Prozent Wahlbeteiligung sind nicht schlechter als in vergangenen Jahrzehnten. Trotzdem möchte Jung, dass sich auch die Kirche die Frage stellt, wie mehr Menschen beteiligt werden können. Soll es neben den Wahlen von Abgeordneten in Zukunft auch kirchliche „Volksentscheide“ geben? Der Kirchenpräsident der EKHN ist an diesem Punkt skeptisch: „Man muss bei einem Referendum Fragen vereinfachen, Komplexität reduzieren. Man setzt sich damit Stimmungen und Popularisierung aus.“ Die notwendige Klärung soll auch von zukünftigen Kirchentagen ausgehen: „Ich wünsche mir, dass vor allem junge Leute für kirchliches Engagement begeistert werden. Aber nicht nur für Kirche, sondern auch für ein Engagement darüber hinaus.“